In den Gängen
Wie Franz Rogowski da als scheues Tier mit auf der Haut tätowierter Vergangenheit durch die Gänge eines Großmarkts schlurft und trotzdem ein Zuhause darin findet, weil es für Leute wie ihn sonst nirgends einen Platz gibt, ist (wie man so wunderbar sagt) großes Kino. Aber auch seine Kolleg_innen und generell der Arbeitsplatz Großmarkt werden mit viel Respekt, Distanz, aber auf Augenhöhe porträtiert – als humorvoller, herzlicher Mikrokosmos verlorener Seelen, die selten das Tageslicht sehen, aber ihre nur angerissenen größeren und kleineren Verwundung mit unendlicher Würde tragen. Und eingefangen wird das von Peter Matjasko in Bildern, die nichts beschönigen, aber doch viel Anmut in den Gängen und damit dem Alltag normaler Leute finden. Schöner Film. Und da mir in letzter Zeit oft aufgefallen ist, wie gerne Autor_innen und Regisseur_innen am liebsten Intellektuelle porträtieren, war das eine willkommene Abwechslung. Wenn Berufe in Geschichten erwähnt werden, dann scheint mir die Darstellung ganz und gar nicht repräsentativ. Protagonisten sind Professoren oder Vielverdiener, Ehefrauen aus Prinzip immer Krankenschwester.
König Lear am Schauspiel Stuttgart
Nachdem mich die sehr sprunghafte, unstimmige BBC-Verfilmung von Richard Eyre mit Anthony Hopkins Montag noch komplett an diesem Stück zweifeln ließ (Ausnahmen: die erwartbar großartigen Florence Pugh und Andrew Scott), versöhnte mich am Tag darauf ausgerechnet eine deutsche Inszenierung mit dem dementen König. Martin Schwab spielte im Stuttgarter Schauspiel den Lear von Beginn an als bockiges Kind in dezent zu großer Kleidung, die ihm zerknittert am Leib hing. Cordelia-Darstellerin Lea Ruckpaul gab auch sehr lebhaft und naseweis den Narren und damit die beiden unverstellten Wahrheitssprecher in Personalunion. Und als da der verwirrte Lear auf den wahnsinnig spielenden Edgar traf und sie sich gemeinsam dem Absurden hingaben, da schien mir plötzlich, als hätte Shakespeare meinen anderen Liebling, Samuel Beckett, vorweggenommen. Sicherlich erfindet diese Inszenierung von Claus Peymann das Rad nicht neu. Die Dämonisierung der beiden älteren Töchter und von Edmund fand ich sehr rückständig. Aber es zeigte mir ein Stück, das von dem irrsinnigen Verhältnis von Herrscher und Diener erzählt und davon, wie verletztes Vertrauen Leben zerstört. Und das wurde erstaunlicherweise auch durch die Sprache ermöglicht. Im Original sind Shakespeares Sätze der Star (zu recht!), in der Übersetzung müssen es Figuren und Geschichte wettmachen. Die effektivste Szene im Lear, wenn der Donner den Theatersaal zerfetzt, braucht sowieso keine Sprache. Dafür gehe ich ins Theater.
König Lear am Schauspiel Stuttgart
You Were Never Really Here
Zum Glück konnte ich ihn doch noch ein zweites Mal im Kino sehen. Wo ich aber beim ersten Mal orientierungslos durchgestolpert bin, hat mich dieses Mal diese Kombination aus rastlosem New York, Joaquin Phoenix‘ bulliger Präsenz, der Gewalt, der zersplitterten Montage und der aggressiven Tonspur total gestresst. Ich fühlte mich komplett in Joes Psyche versetzt, in der wie ein Vorschlaghammer seine Traumata arbeiten, und konnte mir nicht erklären, wie er das aushält. Aber der Film ist nicht nur eine Glanzleistung psychologischen Kinos, sondern auch ein Kommentar auf den einsamen Rächer in edler Rüstung, der die Rettung unschuldiger Mädchen als Sinn seines Daseins begreift, weil er sonst nichts mehr kann und sein eigenes Leiden nur dadurch erträgt, indem er anderen Gewalt zufügt. Joe ist aber kein heroischer, schlanker, gestählter Ritter in ikonischem Outfit. Er ist beleibt, haarig, innen wie außen kaputt, bei seiner Mutter aber eigentlich ein ganz normaler Kerl. Selbst Befriedigung durch Gewalt verweigert uns Ramsay stets um Haaresbreite, weil sie im Off geschieht, in Distanz oder nur in der Überwachungskamera. Als Joe schließlich auch noch seiner letzten Daseinsberechtigung beraubt wird, weil die Prinzessin sich selbst rettet, bricht er zusammen und wird vollständig zu dem hilflosen, Milchshake schlürfenden Kind, aus dem er nie vollständig herauswachsen konnte. Jetzt muss die Prinzessin den Weg weisen. Ein geniales Ende, das die Mechanismen dieser Einsamer-Rächer-Filme offenlegt und sie damit ab jetzt unmöglich macht. Viel mehr bleibt mir dazu nicht zu schreiben, denn Sonja hat bei Kino-Zeit bereits sehr umfassend analysiert, wie Lynne Ramsay hier den Rachethriller dekonstruiert.
Rory Kinnear spricht über Macbeth
In meiner Welt gibt es tatsächlich nichts Heißeres als Menschen, die klug, leidenschaftlich und empathisch über Dinge reden, die ich mag. Wenn das dann auch noch in Rory Kinnears warmer Stimme und überaus englischem Akzent geschieht und das Ding mein liebstes Shakespeare-Stück ist (eine Sache, die ich in meinem Leben mit niemandem teilen kann), dann macht mich das ganz wuschig. „It’s as good as it gets really, in terms of the poetic imagination on show in nearly all of his work, but this one particularly.“ Aber das National-Theatre-Interview neben Anne-Marie Duff ist auch generell sehr aufschlussreich darüber, wie man es aushält, hundertmal hintereinander die traumatisierten Macbeths zu spielen, denn: „Your body doesn’t know you’re lying.“ Ausschnitte gibt es auch auf Video und ist es nicht schön, wie sie bei 0:11 synchron den Kopf wenden?
Rory Kinnear spricht über Macbeth
Zwischen den Stühlen
Seit ich wieder ins Theater gehe und bei Twitter einigen entsprechenden Themen-Accounts folge, bin ich zwangsläufig in eine neue Welt eingetaucht – mit ihren eigenen Regeln, Handlungsweisen, verschiedenen Standpunkten. Mit der Film-Community kenne ich mich aus, die Theater-Community ist mir neu. Aber auch wenn ich mich wie ein frisch geschlüpftes Küken fühle, das Inszenierungen nicht einordnen kann, weil es kaum welche kennt, genieße ich diese Unbedarftheit und Offenheit, die ich gerade habe, noch sehr. Mich können noch Dinge begeistern, die Theaterkenner nur gähnen lassen. Und ich hoffe, dass ich mich niemals wie beim Film von dem Zwang vereinnahmen lasse, gewisse Dinge gesehen haben zu müssen oder eine gewisse Quote zu erfüllen, um dazuzugehören. Ich werde nicht sechsmal pro Jahr nach London fliegen können, dafür werde ich meine hoffentlich jährlichen Theater-Trips hüten wie Schätze. Wo ich also gar nicht den Anspruch habe, jemals vollwertiges Mitglied der Theater-Community zu werden, war ich das beim Film sowieso nie, weil ich das nun mal nicht professionell mache. Aber seit ich das Theater habe, ist der Film-Minderwertigkeitskomplex verschwunden. Die Lücken sind anderweitig gefüllt und ich habe das Gefühl, endlich dort angekommen zu sein, wo ich hingehöre: zwischen den Stühlen.
Ich bin ja ein Wort-Mensch, kein Bild-Mensch, und Fotos interessieren mich nicht mal als Kunstform besonders. Aber Instagram ist als soziales Netzwerk schon interessant (wenn man seinen Feed sehr bewusst wählt) und ich wollte immer gern dazu beitragen, aber einfach draufloszuknipsen ist halt nicht mein Ding. Jetzt habe ich aber ein Konzept gefunden, das meine Interessen abbildet und nicht allzu aufwendig ist, aber tragfähig. Ich nenne es „Culture and Clothes“. Heißt: Eintrittskarten (und auch mal Bücher) an Klamotten, darunter ein paar Worte zum Kulturprodukt. Und so klappt das sogar mit der viel gepriesenen Einheitlichkeit. Ach so, ich heiße dort übrigens lenaleuchtturm.
2 comments
Ich hatte mich Instagram bis vor etwa einem Jahr auch komplett verschlossen, und inzwischen ist der Feed auch schon wieder uninteressant, weil er dank neuem Algorithmus viel Gutes versteckt. Aber was ich wirklich lieben gelernt habe, sind die Instagram Stories. Man nimmt irgendwie fast am Leben von Freunden teil.
Interessant. Bei den Stories kommt es, finde ich, sehr darauf an, wie sie gemacht sind. Komischerweise finde ich es am nettesten, wenn einfach dahergeplappert wird, weil das immerhin etwas über Charakter und Einstellungen der Person verrät. Einfache Fotos/Videos aus dem Alltag finde ich aber nur bei Leuten interessant, die ich persönlich kenne. Leider habe ich es selbst nicht so mit dem Daherplappern … 😀