Friedl – Im Theater
Man muss der singenden Lehrerin einfach vertrauen. Als sie letztes Jahr nach einer Begleitung für die Inszenierung von Hamilton fragte, musste ich einfach zusagen. Als sie noch eine Vorstellung vorschlug (irgendwas mit Shakespeare), vertraute ich ihr blind. So oft wie die Dame in London ist, außerdem spielt Paddington äh Ben Whishaw mit.
So verbrachten wir wundervolle Tage, waren vormittags in der Sonne unterwegs, sodass ich abends fast schon zu geschafft war und dachte, dass ich den Wecker um 4 Uhr morgens einfach nicht überleben werde, wenn ich jetzt noch in einem Theaterstück stehen muss. Ich hatte Bedenken. Auch wegen Shakespeare. Bei Verfilmungen und Inszenierungen shakespearschen Stoffes gibt es bei mir nichts zwischen grauenvoll und legendär.
Und dann standen wir im Theater und ich war kurz verwirrt. Eine kleine Fläche des Bodens war hervorgehoben, mit Mikrofonen und Schlagzeug versehen und Leute liefen herum und verkauften Caesar-Caps, Buttons oder Eis. Wie es sich für geübte Konzertgänger gehört, stellten wir uns natürlich direkt vor die Bühne. Sollte ich jetzt etwa ein gepflegtes Rockkonzert statt drögen klassischen Texten bekommen? Die Müdigkeit und die Kopfschmerzen waren verflogen, die Neugier geweckt.
Und dann kamen da vier Jungspunde an. Drei der Sorte „British Cutiepie“, eher schmächtig und klein und mit Gesichtern, wo man sich nicht ganz sicher ist, ob man sich um pädophile Tendenzen Sorgen machen muss. Und eine Hüne von Sänger, der so ein lautes, tiefes Sprechorgan besaß, dass er wahrlich kein Mikrofon benötigt hätte. Sie fingen an zu spielen. Es schepperte ordentlich. Sie spielten „Rock’n’Roll Star“ von Oasis. Ich denke es ist klar, dass sie mich damit sofort um den Finger wickelten. Danach folgten noch „Roar“ von Katy Perry, „Eye of The Tiger“, wo David Morrissey im feschen Trainigsanzug die perfekte Rampensau mimte, „We’re Not Gonna Take It“ und „Seven Nation Army“. Es war faszinierend. Von dem anfänglich etwas befangenen Publikum war nichts mehr übrig. Die Stimmung war ekstatisch. Euphorisch. Man war im Pöbelmodus. Und dann kam jemand aus dem Publikum plötzlich auf die Bühne, faselte etwas über Caesar und Ides of March, worauf eine andere Person aus der Masse antwortete. Huch, da sind ja Schauspieler unter uns! Die Band agierte auch und die Menschen, die just noch Eis und Buttons verkauften, begannen uns ruhig aber bestimmt von A nach B zu scheuchen. Meine Realität wurde also ganz schön aus den Angeln gehoben. Und das immer wieder. Gerade nachdem ich beobachtete, wie sich eine größere Bühne in der Mitte erhob, die Band, die Security, die Verkäufer allesamt zum Ensemble gehören und ich fasziniert nicht nur den Hauptdialog verfolgte, sondern mich in den Bewegungen und der Mimik der anderen Akteure verlor, war die Szene auch schon vorbei und ich realisierte, dass ich mich darauf einlassen musste, nie zu wissen, wo ich in den kurzen Umbau- und Koordinationsphasen hingeweht werde und was als Nächstes auf mich zukommen würde. Und das war unglaublich intensives Gefühl, was manchmal fast unerträglich war.
Und davon war ich sehr überrascht. Ich war mir zu jeder Zeit bewusst, in einem Theaterstück zu stehen und dennoch fühlte es sich so real an. Ich wohnte einem Mord bei, es wurde in die Masse gebrüllt, dass man in Deckung gehen soll und ich hatte Terroranschlagsassoziationen und fragte mich, ob Menschen, die Erfahrungen mit Massenpanik und Gewalttaten im öffentlichen Raum haben, das ähnlich empfinden würden. Ich schaute mich im Publikum um, lenkte mich mit ihren Emotionen ab, wenn ich merkte, dass meine eigenen mir ein bisschen zu nah waren. Es gab Jugendliche, die zu cool dafür waren und gelangweilt neben ihren Eltern standen, es gab unglaublich offene Münder zu bestaunen, viele glasige Augen und viele, die mit dem Grad an Immersion nicht umgehen konnten und ganz verzweifelt ihre Begleitung anlächelten, wobei es immer eher nach einem Zähnefletschen aussah.
Ich stand direkt vor dem toten Körper Caesars, als dieser dem Volke präsentiert wurde. Ein blutiger Fetzen wurde herum gereicht. Ich reichte ihn dem einen Herren der Band, der noch vor wenigen Minuten lustige Songs gespielt hatte und jetzt in Armeeuniform neben mir dermaßen heulte, dass ich mich wirklich wie auf einer Beerdigung fühlte. Und dann war das natürlich nicht genug Trubel für einen Abend, nein, nach Mord und Terrorpanik und einer Beerdigung zog ich auch noch in einen Krieg. Alles staubig und zerbombt und mit Stacheldraht eingezogen. Um mich herum nur noch bewaffnete, vermummte Gestalten während gefühlt jeder auf der Bühne sich umbringt oder sonstwie leidet. Hallelujah.
Ich war fertig. Erleuchtet, was Theater alles bewirken kann, was bei mir bisher nur dreimal vorher passiert war. Inspiriert von den Möglichkeiten einer Produktion und den Fähigkeiten der Schauspieler, die mir teilweise in der Masse so nahe gekommen waren, dass ich Sachen in mein Ohr geflüstert bekommen habe. Es war eine konzentrierte Atmosphäre, die man selten erlebt. Es gab unten im Pöbel niemanden, der nicht zu 100 Prozent anwesend war. Körperlich und im Geiste. Keinerlei Ablenkung durch Medien oder Kommunikation. Und das hat man bei dem Schlussapplaus bemerkt. Ehrlich und intensiv wurden nicht nur die großen Namen gefeiert, sondern auch die unbekannten Gesichter, die rundherum so viel Energie hineinsteckten und in unmittelbarer Nähe einen in das Stück förmlich einsogen.
Und dass das eine Inszenierung schafft, die von der Handlung her wirklich nichts mit mir und meinem Leben zu tun hat, wo ich mich an sich mit keinem Charakter identifiziere, ist durchaus beachtlich. Und dann sah ich Gandalf im Publikum und meine Nerven waren endgültig strapaziert. Ein Wunder, dass die singende Lehrerin mich nicht auf einer Trage zum Hotelzimmer transportieren musste.
Lena – Im Kino
Seit einigen Jahren nun schon überträgt das National Theatre Aufführungen live und aufgezeichnet aus Londoner Theatern auf Kinoleinwände um den Globus. Ich finds gut, war schon einige Male dabei und pilgerte also wieder bereitwillig zwei Stunden nach Augsburg, um mir Nicholas Hytners Inszenierung von William Shakespeares Julius Caesar mit Ben Whishaw, David Morrissey und Michelle Fairley anzusehen. Aber ich verließ den Kinosaal zwiegespalten: Einerseits ist diese Interpretation ohne Frage das, was die Welt heute braucht. Andererseits ist es nicht der Shakespeare, den ich will. Das liegt allerdings bereits am Stück. Es ist vor allem ein Thesenpapier. Anders als Hamlet oder Macbeth wühlt Julius Caesar nicht in Psychen herum, hadert nicht mit dem Sinn des Lebens oder den Klauen des Gewissens. Schon die Debatte in der Wissenschaft darum, wessen Tragödie hier eigentlich erzählt wird (Caesars oder Brutus‘) zeigt, dass Shakespeare hier weniger an Psychologisierung interessiert ist, sondern eher an einem spezifischen politischen Problem und dabei an Rhetorik. Wer überzeugen kann, gewinnt: Zuerst Julius Caesar durch seine Blenderei das Volk, dann Cassius Brutus für den Tyrannenmord, schließlich Antonius durch seinen Populismus den Krieg. Wer hier nun genau recht tut, bleibt im Stück relativ offen, weil letztendlich nicht ersichtlich ist, was für ein Herrscher Julius Caesar tatsächlich war. Erzählen können beide Seiten viel, aber wem soll man glauben?
Hytners Inszenierung steht jedoch ohne Frage auf Brutus‘ Seite, der als gütiger Intellektueller dem schwächlichen Caesar mit Trump-Anleihen und dem taktischen Kriegstreiber Antonius gegenübergestellt wird. Und das ist in einer Zeit, in der an allen Ecken und Enden der Welt neue und alte Tyrannen sitzen, sicherlich auch gut so. Vagheit ist hier nicht nötig. Auch nicht in der Inszenierung, die wie ein Schlagzeugsolo durch das Stück führt: zackig, unmittelbar, mitreißend. Die Bühne hebt und senkt sich sektionsweise unmittelbar im Zuschauerraum, der als Wahlkampfarena, als Beerdigungszeremonie, als Kriegsschauplatz dient – und das stehende Publikum ist als Volk Roms mittendrin statt nur dabei. Die Schauspieler agieren teilweise innerhalb der Masse und müssen zwangsläufig hindurchlaufen, um zur Bühne zu gelangen. Das Publikum muss sich der sich ständig verändernden Bühne anpassen und wird dazu animiert, mitzujubeln, sich zu empören, zu trauern (hier ist nachzulesen, wie das organisatorisch umgesetzt wurde). So nah war nicht mal Shakespeares eigenes Globe-Publikum den Darstellern. Die Inszenierung treibt so die Eigentümlichkeit des Theaters auf die Spitze: unmittelbarer geht es nicht. Genau so bringt man die uralte Kunstform einem jungen Publikum nahe, das die Welt nur noch durch Bildschirme wahrnimmt. Theater ist im besten Falle Miterleben statt nur Zusehen. Und auf diese Weise werden die Zuschauer unmittelbar in das manipulative Spielchen, das unbeteiligt vor ihnen stattfindet, verstrickt. Die Distanz zum Geschehen wird weitestgehend aufgehoben und es entsteht beinahe ein Zwang, Stellung zu beziehen: „In ‚Julius Caesar,‘ crowds are easily and dangerously moved; and in Hytner’s production, the ways in which the milling, heel-kicking audience snaps to do what it’s told replicates the herd-like mentality of the ill-informed and misinformed masses.“ (Rebecca Mead im New Yorker)
Tausend Kilometer von London entfernt in einem deutschen Kinosessel ist die Distanz aber natürlich wieder vorhanden. Die Diskrepanz zwischen Theater- und Kinoerfahrung ist sicherlich selten so groß wie bei dieser Live-Übertragung. Es ist eine völlig andere Perspektive – die dazu führte, dass mich der Happening-Charakter der Aufführung irgendwann verlor, obwohl die Kameras hier den Vorteil hatten, alle denkbaren Perspektiven bieten zu können: den Überblick aus Vogelperspektive, die Unmittelbarkeit im Pit, die unnachahmliche Nähe direkt auf der Bühne. Aber Theater ist für die großen Gesten, die auch noch zwanzig Meter entfernt beim hintersten Zuschauer ankommen müssen (auch im Bridge Theatre gab es zusätzlich Sitzplätze ringsum); im Film ist noch die kleinste mimische Nuance wahrzunehmen. Das heißt beim besten Willen nicht, dass Theater keine Nuancen kann, aber hier erreichten mich keine. Ich erkannte keine neuen Facetten des Stücks, mir ging kein Licht auf, wo vorher Dunkelheit war. Die Inszenierung scheint eben als unmittelbare Erfahrung von Populismus angelegt, nicht darauf, dem Entblättern menschlicher Seelen zuzusehen – was ich aber suche, wenn ich Shakespeare beiwohne. Aber das ist mein Problem, ich will es nicht zu einem der Inszenierung machen.
Was aber sehr wohl bei mir ankam und mir letztendlich am wichtigsten war: Ben Whishaw. Ben Whishaws samtweiches Timbre, das Shakespeare intoniert – ich war im Himmel. Wo viele der anderen Darsteller Shakespeares Melodien mit relativ gleichbleibender Lautstärke und Stimmlage von sich gaben (besonders Michelle Fairley) formte Whishaw die Zeilen mit einem natürlichen Spannungsbogen und Singsang, mit einer variationsreichen, aber exakten Intonation und mit Emotion in jeder Silbe. Den Nachdruck, den er dem kleinen Satz „Not that I loved Caesar less, but that I loved Rome more” entrang, trieb mir glatt die Tränen in die Augen. „Soul of Rome“ nennt Ligarius den Brutus und so ist es. Ben Whishaw ist das Herz und das Hirn dieser Inszenierung, ein sensibler Bücherwurm, der zur Tat gezwungen wird, weil seine Empathie zu leicht manipulierbar ist. 2004 spielte Ben Whishaw den Hamlet unter Theaterlegende Trevor Nunn (der auch den MacKellen-Dench-Macbeth auf die Bühne brachte) – meine Traumbesetzung. Dass ist das nie miterleben oder auch nur aus der Ferne ansehen darf, bricht mir das Herz in tausend Stücke.