Gleich vorweg: Ich hätte mich gerne länger als nur einen Nachmittag in Marseille aufgehalten. Marseille ist sicherlich eine Großstadt, in der man 3 Tage verbringen kann, um alles Wichtige gesehen zu haben; doch trotzdem hätte ich die Stadt auch gerne „erlebt“, was oft dann passiert, wenn man sich auch langweilen darf und sich ohne Zeitdruck bewegen kann. Wenn der Druck wegfällt, so viel wie möglich sehen zu wollen – auch wenn es schlussendlich ein Spaziergang war, und nur wenige Bauwerke intendiert waren.
Marseille ist die älteste Stadt Frankreichs und wurde bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. von den Griechen gegründet, um mit den ligurischen Stämmen Italiens Handel zu betreiben. Sie nannten die Stadt Massalia. In einem Touristen-Büchlein über die Stadt selbst wird mit 300 Sonnentagen im Jahr geworben und der heftige Mistral, der vom Norden das Meer in der Camargue erkalten ließ, wird unterschwellig beiseite gelassen. Marseille ist eine windige Stadt und die geplante Fahrt nach Château d’If muss auf unbestimmte Zeit verschoben werden.
Marseille gilt als mediterrane Second City, trägt den Namen „Anti-Paris“ und ist ein Ort der Kunst, der seit Jahrhunderten vom rebellischem Charakter lebt. Sie gilt als wenig französisch, die periphere Lage verhilft ihr dabei. Einst war Marseille eine Stadt, deren Wirtschaft sich auf den Hafen fokussierte. Nur mehr schattenhaft sind die Zeugnisse der Vergangenheit sichtbar, in dem hier und da an einem Schiff gearbeitet wird. Ansonsten wirkt die Hafengegend „rein“ und „clean“, aber nicht so, als dass man nicht doch noch etwas von der Ambivalenz zwischen Modernisierung und „alter Arbeiterstadt“ spüren würde. Auch ein Grund, warum es mich gereizt hätte, länger dort zu verweilen.
Die Nord-Süd-Achse verläuft anhand der Canebière vom Alten Hafen durch die Stadt. Alles, was nördlich ist, orientiert sich traditionell am Hafen, während der Süden sich bürgerlicher verhält. Dazu passend ist, dass Paris im Zuge der Sanierungstätigkeiten angefangen hatte, Museen nach Marseille zu verlagern, allerdings nicht innerhalb, sondern außerhalb.
Bis in die 1960er war die Industriezone Marseilles kommunistisch orientiert, in der letzten Wahl ging der größte Bezirk der Stadt an die Front National.
Marseille, die rebellische Stadt
Marseille war in der Neuzeit nie Sitz von Königen oder Adligen gewesen, und hatte sich aus der französischen Revolution heraus als rebellische Stadt verstanden. Bis ins 19. Jahrhundert wurden Paris und Marseille von der katholischen Provence aus regiert.
Als bei den Machthaltern der Eindruck entstand, Marseille mache sich (zu sehr) selbstständig, baute man eine Mauer um die Stadt herum, um zumindest etwas Kontrolle über sie zu haben. So war diese Mauer nicht des Schutzes wegen errichtet worden, sondern zur Überwachung. Im 17. Jahrhundert wurde ein Rathaus installiert, von dem aus die Stadt überschaut werden sollte. Passend dazu hatte ich meine Begleitung überreden können, eine Pause in einer Gondel im Riesenrad einzulegen. Wie erwartet: Vom Riesenrad hat man einen hervorragenden Blick über Stadt und Hafen. Kosten: 7€ für zwei Runden.
Zentrum für Handel und Transit
Der „Port de Sud“ galt als zentraler Galeerenstützpunkt, der Containerhafen Namens „La davon de Marseille“ nimmt heute für die Wirtschaft und Idee von Marseille eine wichtige Rolle ein. Einerseits wurde mit Raubgut gehandelt, andererseits wurden im 17. Jahrhundert Rohstoffe aus den Kolonien importiert, verarbeitet und nach Nordeuropa verkauft. Das Bürgertum war schon seit jeher mit spekulativer Ökonomie verbunden, die von den Reedereien dominiert wurde. Andererseits war der Hafen ein ausgesprochener Ort des Schmuggels von Zigaretten, Drogen wie Heroin. Aus dieser Tatsache fanden unzählige Schriftsteller und Filmemacher die Inspiration ihre Kriminalfilme in Marseille spielen zu lassen.
Und natürlich merkt man nichts mehr davon, zumindest nicht, wenn man lediglich den touristischen Fußstapfen folgt und die Zeit begrenzt ist.
Mit der Entkolonialisierung in den 1950ern und 1970ern strukturierte sich die Stadt um. Neue Bevölkerungsschichten mussten untergebracht werden, wie zurückkehrende Franzosen aber auch andere ethnische Gruppen, die aus unterschiedlichen Gründen nach Frankreich gekommen waren. Gleichzeitig folgte ein Wandel der Hafenindustrie, da die Wirtschaftssektoren langsam abnahmen. Das koloniale Raubgut, dss einst einen beträchtlichen Teil ausmachte, fiel damit weg. Die folgenden Jahre zeichneten sich durch Arbeitslosigkeit aus.
Marseille als Chance
Aktuell sieht sich Marseille immer wieder mit Stadtsanierungs- und Stadtrelativierungsprojekten konfrontiert. Es folgen Umsiedlungen staatlicher Einrichtungen von Paris nach Marseille, wie das Museum für Europa und Kultur. Alles, was einst typisch für Marseille war, wird aus der Stadt gesiedelt, und was heute am Hafen sichtbar ist, sind die modernen Hafenanlagen. Ehemalige Lagerhallen werden zu Luxusshops.
Dieser Prozess funktionierte aber nur bedingt und hatte nicht den gewünschten Erfolg wie in anderen Städten. Marseille definierte sich im 19. und 20. Jahrhundert in erster Linie als Arbeiterstadt, die finanzstarke Schicht lebte nicht in der Stadt, sondern außerhalb. Folgend spielen Arbeitslosigkeit und Wohnraumproblematik eine große Rolle.
Trotzdem gibt es einen Lichtschimmer: Kultur. Marseille zieht kreative Milieus an, was in das einstige Selbstverständnis als rebellische Stadt gut hineinpasst. Aber auch daran, dass Paris mittlerweile unleistbar geworden ist und durch Sanierungen viele der ehemaligen Arbeiteranlagenund industrielle Hafenareale freistehen und somit als Ateliers genutzten werden können.
Ein besonderer Lichtblick ist das Le Fort St. Jean, dessen Beginn im Jahr 1423 und endgültige Ausgestaltung um 1660 stattfand und am Hafen wacht. Seine Innenräume sind heute Teil des MuCEM (Museum für europäische und mediterrane Zivilisationen). Es ist das einzige Museum, das sich ausschließlich der Menschheitsgeschichte des Mittelmeerraums widmet.
Das Fort selbst ist kostenlos begehbar, nachdem man den zweiten, langen (und windigen) Steg überwunden hat, durchstreift man das Museum selbst und kann am Ende sogar noch ins Meer eintauchen. Zusätzlich hat man vom Fort aus einen hervorragenden Blick über die gesamte Stadt. Wer sich die 7€ fürs Riesenrad sparen möchte, der besuche die Festung.
Die Informationen für diesen Beitrag stammen aus der Einheit vom 3.5.2017 der Ringvorlesung „Literatur und Kultur – Literaturwissenschaft: Ringvorlesung: Secondary oder peripher? Städtebilder der Romania im Spannungsfeld von Regionalität, Nationalität und Globalität“ an der Universität Innsbruck im Sommersemester 2017 unter der Leitung von Schrader Sabine.