Es schockiert mich immer noch, dass ich anscheinend jetzt in dem Alter bin, wo man zu Geburtstagsbrunchs eingeladen wird. Schlimm. Und anstrengend, weil ich für einen Festpreis immer versuche, das Beste herauszuholen.
Fressen bis die 17 Euro für die veganen Speisen im Wohlfühl-Bio-Sonstwas-Hotel sich gelohnt haben. Wie zur Hölle bin ich da hingekommen? Ach ja, meine Eltern wollten mir etwas Gutes tun, ist ja Ende des Monats, was bedeutet, dass der Kühlschrank leer ist. Ich opferte mich, stand um 9 Uhr auf und fuhr mit ihnen da hin. Auf leeren Magen.
Und ich kenne das von jeder Hausparty, von jeder Veranstaltung, wo mehr als drei Personen anwesend sind. Keiner isst vernünftig. Und es kotzt mich an. Es stresst mich.
Während mit der zufällig getroffenen Verwandtschaft noch geplaudert wird, renne ich zum Buffet. Unsicher, weil alle Anwesenden dies nicht tun. Ich frage vorsichtshalber, ob man denn schon darf, worauf mir nach einem Zögern auf Englisch geantwortet wird. Na dit liebe ick ja. Sonntagmorgen schon fancy fancy international sein.
Jedenfalls durfte ich dann loslegen. Einen kleinen Teller mit einer parfaitartigen Schokoladenspeise im Glas, einen großen Teller mit kleinen bunten Happen, primär aus Süßkartoffeln, Zucchini und Pilzen gerollt, dazu eine vegane Roulade.
Ich laufe glücklich, in einem schwarz-weißen wallenden Kleid gen Tisch, werde von den Gästen gemustert, setze mich hin, werde kommentiert. Ja, ich habe Hunger. Ja, ich esse gerne herzhaft und süß im Wechsel und ja, ich werde jedes Gericht, was liebevoll aufbereitet wurde, probieren.
„Wo isst du das nur alles hin…“
„Na in den Bauch.“
Ich bemerkte, dass ich mein Kleid unterschätzt habe. Es ist nicht nur hübsch, sondern erfüllt eine Funktion. Normalerweise sind die Kleider, die einem am besten stehen, enganliegend, den Körper umschmeichelnd, so dass man weder darin essen noch entspannt sitzen kann. Stehkleider.
In dieses Kleid muss ich zwar meine Oberweite hineinzwängen, dadurch, dass diese von dem Stoff hochgehoben wird und darunter in einen leichten, weiteren übergeht, könnte ich allerdings auch schwanger dasitzen und niemand würde es bemerken.
Ich hole meinen nächsten Teller mit sämtlichen Salatvariationen, dazu als Dessert Rohkostkugeln (schmeckte einfach wie Marzipan) und kleine Apfel-Brownies.
Man kann echt nicht gewinnen. Ich bin 179 cm groß und wiege je nach körperlicher und psychischer Verfassung zwischen 68 und 74 kg. Mein BMI liegt bei 22,8. Übergewicht beginnt bei 24,9. Soweit ich weiß, habe ich keinen Tumor, keinen Krebs, bin gesund.
Und ich hasse es, wie seitdem ich angefangen habe, aus dem kindlichen Körper herauszuwachsen, immer impliziert wurde, dass ich ja nicht fett sei, man da beim Bauch ja schon etwas machen könnte. Dass, wenn ich hier und da abnehmen würde, dann perfekt wäre.
Deswegen werde ich immer so sauer, wenn mir Leute erzählen, sie fangen jetzt mit Sport an, um abzunehmen. Einfach schlanker sein, mehr Selbstbewusstsein und so. Die Narren vergessen alle, das unsere liebe Gesellschaft es niemals zulassen würde, dass du dich in deinem Körper wohlfühlst. Nehmen wir an ich wäre 20 Kilo schwerer. Dann hätte ich beim Buffet verachtende Blicke geerntet. „Wie kann sie nur in der Öffentlichkeit essen. Sieht sie nicht, wie fett sie jetzt schon ist?“
Wenn ich jedoch 20 Kilo leichter wäre, dann hätte ich doch nicht plötzlich dreihundert Kerle um mich, die alle mit mir schlafen wollen oder würde denken, dass mein Erscheinungsbild zufriedenstellend ist, denn die Leute würden mich misstrauisch begutachten.
„Die ist so dünn, die erbricht bestimmt alles nachher auf der Toilette. Was für eine Gestörte.“
Du. Kannst. Nicht. Gewinnen.
Außer du denkst an die kommende Generation junger Menschen, deine Kinder, Nichten, Neffen oder die Sprösslinge von Freunden und hörst auf, das Spiel mitzuspielen. Außer du möchtest, dass das traditionelle Jahr zwischen Schule und Studium nicht mehr für Work & Travel, Freiwilligenjahr oder Bundeswehr genutzt wird, sondern alle Jugendlichen dann reif für die Psychiatrie sind.
Ein Gefühl für den Körper haben, das ist das neue Dünnsein.
Und cremt euch ein! Ich habe meinen ersten Sonnenbrand des Jahres kassiert.
2 comments
Soso, da bewegt sich also jemand in den Höhenregionen von Nicole Kidman und Tilda Swinton.
Und dieser ständige Hype um das Gewicht usw. ist echt nervig und menschenverachtend. Körpergefühl ist da eine gute Basis.
Und genau deshalb hasse ich es essen zu gehen… Selber Kochen, gemütliches Sofa und Serie. Ende. Hab es endlich aufgegeben anderen zu gefallen. Beste Entscheidung meines Lebens.