Das Internet ist gut und schön, um über Filme zu diskutieren. Es ermöglicht eine Meinungsvielfalt wie nie zuvor. Vielleicht gerade als Reaktion darauf wird das Filmsehen aber immer mehr in ein Regelkorsett gespannt: Ich habe den Film unter den ultimativen Bedingungen gesehen, größer, schöner, bunter – meine Meinung ist mehr wert als deine. So wird es quasi unmöglich, Filme unvoreingenommen und ohne vorschreibenden Ballast zu schauen: Filme haben in der einen Version gesehen zu werden, unterzeichnet vom Regisseur, in diesem und jenem Format, nur in einem vorgegebenen Quadratmeterzahl, auf keinen Fall 3D, zur genau bestimmten Tages- und Jahreszeit, mit 21,7° im Kino, Mitte Mitte, nur mit einem filmischen Vorwissen von 5.000 anderen Filmen und sowieso allen vom Regisseur und dann bitte jeden Frame sezierend und hinterher komplett unvoreingenommen objektiv beurteilend, mit fünf Sternen oder 23. Alles andere ist weder die einzig richtige Erfahrung noch wahre Filmkritik.
Ich weiß nicht: Wo kann man denn das hoheitliche Filmgesetz bestellen, in dem diese Regeln vermerkt sind? Wer hat sie aufgestellt? Wer gab ihm wiederum die Autorität dazu? Warum hat man mich nie zur Wahl des offiziellen Filmrats eingeladen? Und was passiert, wenn ich die Regeln nicht befolge? Stirbt das letzte Einhorn, muss sich der Regisseur in den Schlaf weinen, wird für jede „falsche“ Rezeption eine Filmkopie verbrannt? Seit wann ist Filmschauen so ein Staatsakt? Jeder will anderen durch eine Reproduktion der Bedingungen, unter denen der Film gesehen wurde, die eigene Wahrnehmung, Gefühlsintensität und Meinung aufdrängen, denn sie ist ja die einzig richtige. Überraschung: Subjektive Wahrnehmungen lassen sich nicht übertragen. Und so objektiv man auch daherkommt, Filmrezeption ist immer subjektiv, auch die urteilslosen Analysen, weil jeder Wissens- und Erfahrungsschatz individuell hergestellt ist. Anzunehmen, dass sich die Wirkung eines Films und die Gefühle, die man dabei hatte, durch die gleiche Situation übertragen lassen (und nur durch diese Situation) ist extrem egozentrisch. Jeder schreibt sich eine Wahrnehmungshoheit zu. Entschuldigung, aber ich kann mich sehr gut von Filmen berühren lassen, die ich auf meinem Laptop schaue, und es tut mir leid, wenn du das nicht kannst, aber das ist nicht mein Problem.
Vorschriften dieser Art enthalten zudem diverse Diskriminierungen: Nicht jeder kann es sich leisten, für einen Film ans andere Ende des Landes zu fahren oder überhaupt regelmäßig ins Kino zu gehen. Dürfen diese Menschen keine Filme sehen? Nicht jeder hat eine filmhistorische Ausbildung genossen oder die Zeit und Lust, wöchentlich zehn Filme zu sehen. Müssen diese Menschen ihr Meinungszentrum im Hirn ausschalten? Besonders arrogant ist es auch, wenn Kritiker annehmen, dass jeder in New York oder London wohnt, und sich nicht mal darum scheren, wo Filme überhaupt gezeigt werden. Es redet sich natürlich leicht, wenn einem selbst Filme einfach umsonst vor die Haustür gesetzt werden. So geben sie Anweisungen ohne Lösungen anzubieten.
i can’t stress this enough: you must see DUNKIRK in IMAX 70mm. wait however long you need to wait, travel however far you need to travel.
— david ehrlich (@davidehrlich) July 13, 2017
(Wenn der Film so sehr mit diesem Format verbunden ist, sollte der Regisseur die Größe (pun intended) haben, ihn auch nur in diesem Format zu zeigen. Können ihn eben nur eine Handvoll Leute sehen, tja. Theater ist auch nicht anders.)
Ich meine, es ist nichts falsch daran, Vorschläge zu machen: Mir hat der Film gefallen, besonders unter diesen Umständen, oder ich fand ihn aus diesem und jenem Grund wichtig, vielleicht könnte er auch für dich wichtig sein. Ohne Hinweise würden wir bald womöglich gar keine Filme mehr schauen, denn wer kann schon noch eigene Entscheidungen treffen ohne dauernde Anleitungen? Aber so kommt man bei Twitter natürlich nicht zu Klicks (oder auch erwünschten Kontroversen), nur durch muss muss muss.
Für mich gibt es bei Filmdingen (bei eigentlich fast allem) nur noch ein Muss: Respekt. Respekt heißt, keinen Schaden anzurichten. Ich habe Respekt vor dem Medium Film. Menschen stecken Arbeit und Herzblut hinein und erschaffen etwas, was unterhält, ästhetisch, gesellschaftlich und persönlich relevant ist. Mir ist es wichtig, Filme mit Herz und Hirn wahrzunehmen, sie nicht einfach auf eine dämliche Sternebewertung zu reduzieren und ohne Erklärung abzuwatschen. Aber andere dürfen das tun, denn wer sollte es ihnen verbieten? Es tut niemandem weh (außer natürlich den Fans eines Films, aber herrje, reißt euch zusammen!). Filme illegal runterzuladen ist respektlos, jedenfalls wenn die Beteiligten stattdessen etwas für ihre Mühe bekommen könnten. Über Filme herzuziehen, weil man sich vorher nicht über ihr Genre informiert hat, ist respektlos, weil man die eigenen Fehler auf andere schiebt.
Aber ist es respektlos, Filme auf dem Smartphone zu sehen? Es ist vielleicht nicht, was der Regisseur im Sinn hatte, aber die Plattitüde ist wahr: Ist ein Film in die Welt gesetzt, gehört er nicht mehr dem Regisseur, sondern dem Publikum. Zumal nicht garantiert ist, dass ein Film ab einer bestimmten Größe oder Auflösung mehr oder „richtiger“ wahrgenommen oder gefühlt wird. Was der Rezipient mitbringt (Motivation, Aufmerksamkeit, Offenheit, Erfahrung, Wissen) spielt eine wesentlich größere Rolle als die Bildqualität. Es ist letztendlich der Zuschauer, der den Film herstellt. Man kann Filme in Miniformat sicherlich nicht im Detail wahrnehmen, aber Filmen zu attestieren, dass sie nur in einem bestimmten Format wirken können, macht ihre Fähigkeit klein. Jeder Film wirkt in jedem Moment, in dem man ihn sieht, anders, je nach Größe, Ort, technischer Ausstattung, Lebenssituation, Begleitung. Film ist ein bewegliches, lebendiges Medium und so ist Filmschauen auch kein steriles Laborexperiment, sondern lebendig, persönlich, mal kraftvoll, mal unterhaltsam, mal langweilig. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Filme auf großer Leinwand anders wirken können – aber bei den allermeisten Filmen hatte die Rezeptionssituation keinen Einfluss auf den Langzeiteindruck, den absoluten, dauerhaften Wert des Films. Ich liebe es so sehr, im Kino zu sitzen, in dieser dunklen, geborgenen Höhle, in der nur ich bin und der Film (die anderen Menschen stören mich wenig). Aber so viele meiner Lieblingsfilme habe ich noch nie oder erst später im Kino gesehen und es machte keinen Unterschied, denn sie verloren ihre Kraft nicht mit den Leinwandmetern. Selbst ein minimal anderes Bildformat, also Seitenverhältnis, hat nicht den überwältigenden Einfluss, den man glauben machen will. Das wäre ja auch ziemlich schwach – von den Filmen und ihrer Eindrücklichkeit selbst und von meiner Fähigkeit, Schönes und Wahres für mich zu erkennen. Das kann für andere Menschen anders sein, aber das tut mir dann leid für diese Menschen, denn es macht ja sehr unflexibel. So kann es also sein, dass es manchen Menschen genügt, Filme auf Smartphone-Größe zu sehen, um trotzdem etwas daraus mitzunehmen – vielleicht ja sogar etwas ganz Anderes, Neues, was noch keinem Kinogänger bisher aufgefallen ist. Wem schadet es denn? Dem Film, dem Kameramensch? Bestenfalls dem Zuschauer selbst, sein Pech. Allgemeine Regeln machen nur Sinn, wenn andere Menschen, die Allgemeinheit betroffen sind.
I’m looking forward to seeing Dunkirk in 70mm IMAX; if it’s good, it will also be good on DVD or 16mm or a cell phone.
— Richard Brody (@tnyfrontrow) July 18, 2017
Es ist ja auch nicht so, als wäre das einzige oder beste Resultat von Filmen die Überwältigung. Für die Filmanalyse kann ein kleiner Bildschirm, auf dem man den Film lustig anhalten und spulen kann, von Vorteil sein, z. B. weil er einen kompakteren Eindruck der Stimmung, der Farbtemperatur, des Blockings usw. vermittelt und weil er eben eine gewisse geistige Distanz erlaubt – während man so nah davorsitzt wie es in keinem Kino der Welt möglich ist. Eine Vielfalt verschiedener Intentionen, Herangehensweisen und Wahrnehmungen kann doch nur zur Diskussion beitragen.
Filmschauen ist doch etwas Schönes. Es macht für Momente glücklich oder auf hilfreiche Weise traurig. Es ist (neben dem Schreiben) die schönste Beschäftigung, die es gibt. Warum muss man denn einschränken, wie man diese Schönheit zu genießen hat? Man kann Menschen nicht aufzwingen, wie sie Filme wahrzunehmen und zu empfinden haben. Deswegen macht es keinen Sinn, eine Rezeptionssituation vorzuschreiben. Gleichzeitig ist es arrogant, anzunehmen, dass andere Menschen nicht in anderen Situationen Ähnliches wahrnehmen oder empfinden können. Filmschauen ist keine Raketenwissenschaft (auch wenn Filmwissenschaft und -analyse natürlich ebenfalls etwas Wunderschönes ist, aber eben nur eine mögliche Herangehensweise von vielen). In der Kunst gibt es keinen Absolutheitsanspruch, deswegen ist es Kunst. Alles kann, nichts muss.
7 comments
Ich bin ganz deiner Meinung, Lena. Jeder darf Filme schauen, wie er will. Ich habe meine Präferenzen (bleibe lieber im Heimkino als ins Kino zu gehen, z.B., und habe schon lange keinen Film mehr auf einem Fernseher gesehen), aber nur weil ich da in meinen Sehgewohnheiten festgefahren bin heißt das nicht, dass andere sie mit mir teilen müssen. Und dieses „Ihr habt den Film nicht wirklich gesehen, wenn ihr ihn nicht auf diese eine Weise gesehen habt,“ das man immer wieder aus gewissen Kreisen hört, nervt wirklich ein bisschen.
Wobei es bei mir auch einen Punkt gibt, bei dem ich tatsächlich glaube, dass jemand nicht den selben Film wie ich erlebt hat: Wenn man ihn synchronisiert gehört hat. Da hat dann plötzlich nicht mehr nur das Bild eine andere Größe oder Auflösung. Da wurde ein essentieller Teil eines Films entfernt und durch einen anderen ersetzt. Unabhängig von der Qualität oder der gefühlten Notwendigkeit der Synchronisation wird durch sie das Werk so drastisch verändert, dass es zu einem völlig neuen, anderen wird. (Auf The Film Experience habe ich mich mit dem Thema etwas ausgiebiger befasst.)
Das sehe ich auch so. Mal abgesehen vom technisch-akustischen Aspekt (eine Synchro klingt einfach immer unnatürlich) und Übersetzungsverlusten, können eine Stimme und der Klang einer Sprache sehr zur Atmosphäre beitragen. Aber auch wenn ich selbst das niemandem verbieten möchte (zumal Kinos einem ja meist keine Wahl lassen), bin ich hier intoleranter, weil es durchaus Schaden anrichtet. Würden Zuschauer die Synchro-Vorstellungen leer lassen, müsste ich die O-Ton-Vorstellungen in den lokalen Kinos nicht mehr mit der Lupe suchen, was mein Leben erheblich erleichtern würde. Zumal ich davon überzeugt bin, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den Englischkenntnissen und der eingeschränkten Synchronisationspraxis anderer Länder. Sich keinen größeren Fernseher leisten zu können ist eine Sache, bei Netflix durch einen Klick die Sprache zu ändern eine ganz andere.
Wer kam überhaupt auf diese bescheuerte Idee? Zu Stummfilmzeiten musste man doch auch lesen.
ISchöner Artikel. Zum Glück bin ich von solchen Besserwissern bisher verschont geblieben; was das Argument betrifft „zu Stummfilmzeiten musste man doch auch lesen“, denke ich, dass es zu Stummfilmzeiten viel weniger zu lesen gab, denn es waren meist Zwischentitel. Bei manchen Filmen, die sehr dialoglastig sind, scheuen viele wahrscheinlich die Mühe, so viele Untertitel zu lesen, dass sie lieber eine synchronisierte Fassung schauen.
Und es gibt sogar manche Synchronstimmen, die mir besser gefallen als die Originale (American Horror Story wäre z.B. so ein Fall).
LG
Ulrike
Ja, das kann tatsächlich passieren, dass die Synchronstimme mehr rüberbringt (z.B. kann ich Gattaca kaum im Original schauen, weil ich ihn synchronisiert lieben gelernt habe und Ethan Hawkes Stimme so langweilig ist), aber das beweist ja nur, was für eine große Rolle die Stimmen spielen. Eine synchronisierte Fassung ist eine andere Version des Films/der Serie. Das kann man in Kauf nehmen, aber man sollte sich dessen bewusst sein.
Bei manchen Synchronfassungen habe ich sogar das Gefühl, dass der Sound besser ausgesteuert ist und „runder“ klingt als beim Original..
Ganz deiner Meinung… Für Filme darf man ins Kino gehen, sie online bei legalen Streamingportalen schauen oder tatsächlich die Bibliothek bemühen. Bei Serien ist, dies leider bei mir besonders schwierig da die nächste Bibliothek die Serien hätte sehr weit weg ist und der Mitgliedsbeitrag wirklich teuer. Den kann ich mir im Moment leider nicht leisten, und auch nicht Sky, Amazon Prime, Netflix, Maxdome etc. gleichzeitig zu unterhalten. Ich finde dort sollte eine adäquatere Lösung geschaffen werden.
Ich denke über ein Genre herzuziehen ist in gewisser Weise fehl am Platz, wenn man es lediglich aus Böswilligkeit tut. Konstruktive begründete „Hassreden“ kann ich ja noch irgendwie verstehen. Ich komme beispielsweise weder mit Horrorfilmen klar noch mit Slapstickkomödien oder mit der zehntausendsten Blockbusterverfilmung.
Die Wirkung eines Films dagegen hängt für mich definitiv von der der Leinwandgröße ab, ein „Valerian“ kommt auf großer Leinwand einfach besser. Der Film ist aufgrund seines Welten/ Setdesigns so unglaublich gut ähnlich wie „Life of Pie“. Die Handlung kann man zumindest bei ersterem Film, getrost vernachlässigen. IMAX, mit 4K Auflösung, Surroundanlage und 3D Optik ergeben in diesem Falle sehr viel mehr Sinn. Es ist eben mehr Wirkung für die Sinneswahrnehmungen, als ei kleines 2D Bild an der heimischen Flimmerkiste zu genießen oder dem Smartphone. sehr viel mehr Spaß als an der heimischen Flimmerkiste.
Diese Streamingdienste gehen tatsächlich in Summe ganz schön ins Geld. Aber es ist doch wesentlich angenehmer, flexibler, unsynchronisierter als früher, als man noch ans lineare Fernsehen gebunden war. Besonders praktisch ist ja, dass man bei den meisten monatlich kündigen kann. Mal hier einen Monat, mal da einen, das geht schon.
Es kommt darauf an, was man unter „besserer“ Wirkung versteht. Mehr Immersion, Mitgefühl, Staunen? Ja, das ist sicherlich für die meisten Zuschauer (aber auch nicht zwangsläufig für alle) durch eine größere Leinwand zu erreichen. Aber Filme können ja eben noch auf andere Weise wirken. Um „Valerian“s pazifistische Handlung zu verstehen, ist keine Leinwand nötig oder vielleicht sogar hinderlich, weil das Visuelle zu sehr ablenkt. (Das will „Valerian“ natürlich, aber wozu dann überhaupt eine pazifistische Geschichte erzählen?) Und Filme, deren Spaßfaktor an eine Projektionsweise gebunden ist, verwechseln sich mit einer Jahrmarktattraktion, finde ich. Für reines Spektakel gehe ich persönlich nicht ins Kino. Aber das kann jeder machen, wie er mag.