Seit Hunger verfolge ich beinahe obsessiv Michael Fassbenders Weg als Schauspieler. Aber siehe da: Nachdem der Mann ein Jahrzehnt lang fleißig zwei, drei neue Rollen pro Jahr auf die Leinwand litt, ist es auch mal gut. Zumal ich keinem naiven Personenkult mehr frönen will, der sich durch die nächste unangenehme Enthüllung aus dem Privatleben als Glorifizierung eines Arschlochs herausstellt. So entfolgte ich vor einigen Monaten endgültig allen Fassbender-Fan-Accounts auf Twitter und Instagram, die mir zwar nicht seine eigenen Worte, aber immer wieder ein nettes Bild des ansehnlichen Darstellers in die Timeline spülte, und mir war beinahe so, als wäre ich erwachsen geworden oder jedenfalls der Identität entwachsen, die man „Fangirl“ nennt.
Ja klar.
Als wäre meine Leidenschaft für die visuell erzählenden Künste nicht auch in regelmäßig wiederkehrenden Phasen davon bestimmt, einem Schauspieler so zu verfallen, dass ich mich ein Wochenende lang in YouTube vergrabe. Wenig überraschend ist momentan Rory Kinnear an der Reihe. Den finde ich zwar nicht erst gut, seit ich vor zwei Wochen in London einen Theatersaal mit ihm teilte (hier nachzulesen). Ich weiß nicht, wann er mir zuerst auffiel, aber spätestens sein unfassbar sanftes Frankensteins Monster in Penny Dreadful brach mir so sehr das Herz wie wenige andere Serienfiguren. Ich war einige Tage schier besessen von der Folge „A Blade of Grass“ (Beweis), in der er mit Eva Green eine Gummizelle teilt und ein wunderbar geerdetes Gegengewicht zu ihrer zerstörten Vanessa Ives darstellt. Ihn aber aus wenigen Metern Entfernung in meinem liebsten Shakespeare-Stück zu sehen hat mein Interesse definitiv noch einmal befeuert und ich bin kurz davor, mir das nicht untrashige Penny Dreadful erneut zu geben. Ich meine, wie weich kann eine Stimme sein:
Rory Kinnear sieht aus wie ein Buchhalter, aber er kann alles spielen – in Sekundenschnelle zwischen dem zartesten Mitgefühl und verführerischer Eiseskälte wechselnd (siehe „A Blade of Grass“, das man übrigens auch ohne jegliche Kenntnis der Serie schauen kann). Kaum ein anderer Schauspieler intoniert so klar und stattet jedes Wort, jede Regung mit so viel Bedeutung aus. Er konturiert selbst seine vielen Nebenrollen so scharf und treffend, dass man meint, sie wie Bücher lesen zu können, käme man nur aus dem Staunen heraus.
Und genau das macht es immer wieder so befriedigend, Schauspiel-Karrieren zu verfolgen und sogar Video-Interviews zu verschlingen, auch wenn ich zu den Privatpersonen Abstand halten will: Durch die unglaubliche Vielfalt und Eindrücklichkeit der Ausdruckskraft (dazu gehört auch die private Rolle) gewinnen Menschen eine Schönheit, die die äußere Erscheinung weit übersteigt und eine Menschlichkeit offenbart, die in der alltäglichen Interaktion im Vergleich auf ein Minimum reduziert ist. So sind neben wenigen anderen Faktoren derzeit auch nur noch Schauspieler_innen in der Lage sind, mich für Filme zu hypen. Regisseur_innen sind unzuverlässig, Darsteller_innen enttäuschen seltener. Selbst aus einem unbefriedigenden Film kann ich dank einer überzeugenden, besonderen Performance noch etwas mitnehmen. Und jede neue Rolle trägt zum Facettenreichtum eines Schauspielers und damit seiner Schönheit bei (hier habe ich bereits darüber geschrieben).
Rory Kinnear spielt so gekonnt mit diesem Facettenreichtum menschlicher Emotionen und damit Erfahrungswelten, dass ihn allein dieses Talent und diese Offenheit für den Moment zum attraktivsten Mensch der Welt macht. Schauspieler werden für mich nicht durch einen Sixpack schön, sondern weil sie mir etwas offenbaren, was ich sonst nicht sehe. Sie bringen mir, der es unheimlich schwer fällt, Distanz zu überwinden, Menschen ins Wohnzimmer, ohne dass ich mich dafür öffnen muss. Ich kann mit ihnen fühlen und erleben, ohne mich selbst einbringen zu müssen. Es ist eine einseitige, aber sehr ungefährliche Beziehung.
So reicht es mir auch vollkommen, sie aus der Distanz zu bestaunen. Ich habe (anders als echte Fangirls) kein besonderes Interesse daran, meine Lieblingsschauspieler persönlich zu treffen. Ich wüsste nicht, was ich zu ihnen als Privatpersonen, die einfach nur ihren Job machen, sagen sollte. Ich kenne diese Leute doch nicht. Lediglich ihre Rollen interessieren mich (wobei mich die Stage-Door-Erfahrungen der Singenden Lehrerin schon ein wenig neugierig machen, und wenn nur darauf, mal aus der Nähe zu gucken). Rory Kinnear hat mir aber eine Möglichkeit gezeigt, ihnen noch ein wenig näher zu kommen ohne meine Distanz aufgeben zu müssen: Theater. Theater ist zwar nicht etwa besser als Film. Es verweigert einem die Großaufnahme der feinen Mimik, vor allem wenn man für gute Plätze nicht allzu tief in die Tasche greifen kann. Aber über zwei Stunden hinweg Raum und Zeit mit diesen unvergleichlich schönen Menschen zu teilen und sie unbeeinflusst beobachten zu können, auch in den Momenten, in denen sie sich im Hintergrund halten und nichts zu tun haben, ist schon etwas sehr Besonderes. Die Aura des Originals eben. Plötzlich sind die Realitäten verbunden, auch durch das gemeinsame Interesse am Theater, an einem Stück, einer Rolle, während die Stars im Kino wie auf einem anderen Planeten wirken. Und wann sonst kann man schon mal schöne Menschen ungescholten anstarren?
Noch perfekter wird meine neue Leidenschaft nur dadurch, dass mich schon wieder das schottische Stück auf Trab brachte. Nicht zum ersten Mal: Als Michael Fassbender Macbeth spielte, fuhr ich dafür von Ulm nach Hamburg, um den Film einen Monat vor Deutschlandstart sehen zu können. Tja. Und diesmal eben für Rory Kinnear nach London, obwohl die Aufführung eine Woche später live in deutsche Kinos übertragen wurde. Ich bereue nichts. Aber ich mochte Theater schon immer, so ist es nicht. Als Jugendliche besuchte ich dank Schulplatzmiete recht häufig die Nürnberger Bühnen, in den letzten zehn Jahren bemühte ich mich allerdings wenig. Es ist ja auch nicht billig. So brauchte es eben erst wieder den ollen Barden (und genügend Kleingeld), um mir diese Welt erneut zu öffnen. Vielleicht ist es gerade beim deutschen Theater nicht richtig, so schauspielerfixiert zu sein, aber solange diese wiedererwachte Leidenschaft noch besser als Film Kompensation für mein distanziertes Leben bietet, ist mir das egal. Nachdem ich nun den schönen Franz Rogowski in München gesehen habe, schiele ich schon nach Berlin zu Nina Hoss und Lars Eidinger. Und der Sehnsuchtsort London bleibt natürlich, nun ein bisschen greifbarer. Ich komme wieder, Rory, für deine nächste Rolle in einer geteilten Realität.
Bilder © Lena Arndt | © Brinkhoff Mögenburg